Andreas Okopenko wollte 1970 mit seinem Reisetext „sich und die Leser aus dem Schnarchfluß stören“. Während einer Bahnfahrt entstand die Idee zum Roman mit ruhig dahinfließender Hauptgeschichte, in der zwar nichts Aufregendes passiert, wo jedoch Abschweifungen möglich sind und die Leser über deren Ausblick und Verweildauer entscheiden. Der Autor setzte diese Idee als Roman in Lexikonform durch. Statt eines Vorwortes leitet eine direkt an die Leser gerichtete Gebrauchsanweisung die Textreise[1] durch 789 alphabetisch angeordnete Einträge[2] an:
„Sie brauchen nur kreuz und quer durch mein Lexikon zu lesen, so wie Sie sich ja auch […] durcheinander erinnern können. Das ist Welt. In vorgeschriebener Reihenfolge vorgeschriebene Blicke zu werfen, ist hingegen klassische Lektüre […] Ich will Sie – versuchen wir es einmal – aus der Lektüre in die Welt befreien.“[3]
Den Rahmen dafür bietet die Donauschiffsreise des Chemiekaufmannes J. zum Exporteurtreffen in Druden, deren Strecke der existierenden Route von Wien nach Dürnstein entspricht, mit veränderten Ortsnamen, so wurde zum Beispiel das reale Dürnstein zum fiktiven Druden (siehe Kartenausschnitt unten). Der Eintrag „Anfang der Reise“ ist zugleich der Beginn der Hauptgeschichte. Die kursiv gedruckten Verweise am Ende jeder Reiseetappe führen auf der Hauptroute weiter, anderswo im Text angeführte Verweise sind normal gedruckt und laden zu Abstechern ein.
Die einzelnen Etappen der Reise und die kurzen Essays, in denen sich Andreas Okopenko themenbezogen äußert[4], machen nur einen kleinen Teil des Materials aus, aus dem der Roman „selbst zu basteln“ ist. Die Fülle an Möglichkeiten, sich „nebenbei“ umzusehen, soll das wahre Leben spielerisch darstellen und zeigt Okopenkos grundsätzlich positive Sicht auf die Menschen, die Welt, das Leben und den Genuss. Das Ende der Reise stellt das Ende der Hauptgeschichte dar, bietet jedoch Verweise zum Weiterstöbern in weiteren Einträgen.
Die meisten Einträge sind eine bunte Sammlung aus Anekdoten, Notizen, Zeitungsausschnitten, Zitaten, Beschreibungen und vielem mehr. Hier finden sich auch Aufforderungen zum Spielen, zum Einkleben von Bildern oder anderem, zum Eintragen eigener Erlebnisse, Erfahrungen, Ideen und Gedanken. Sie überschreiten selten den Seitenumfang, sind zumeist ironisch formuliert und ohne weiteres einzeln lesbar, weil sie die Hauptgeschichte nicht beeinflussen. Okopenko hat ebenso die Typographie der Einträge unterschiedlich gestaltet, etwa kursiv, fettgedruckt, in seiner eigenen Handschrift, mit sprachlichen Experimenten oder zentrierten, mehrspaltigen Passagen, Grafiken, Listen etc. Die „Taufstelle“ erklärt, warum der Autor zwischen den Erzählperspektiven wechselt und wann welcher der Heldennamen Ich-, Er-, J. oder Man zum Einsatz kommt.[5]
Die Verweise zwischen den Lexikoneinträgen fordern zu Interaktionen auf und geben die Struktur vor, die bereits der HTML-Logik von späteren Webseiten folgt. Der literarische Vorreiter des Hypertextes bot sogar mehr Interaktionsmöglichkeiten als seine 1998 von der Gruppe “Libraries Of The Mind” veröffentlichte Adaption in elektronischer Form als ELEX – Elektronischer Lexikon-Roman auf CD-ROM. Probleme für ELEX, als Text-, Grafik- und Fotogalerie, Lese- und Konzertereignis in einem,[6] waren 1998 beschränkte technische Möglichkeiten und grundsätzliche Unterschiede der verschiedenen Medien.[7] Allerdings entfällt das mühsame Vor- und Zurückblättern, das Anklicken des Stichwortes genügt, und der zugehörige Lexikonartikel erscheint auf dem Bildschirm. Notizen erübrigen sich, denn eine Landkarte zeigt die momentane Position, die Spur bleibt erhalten und so kann der gesamte Lektüreweg zurückverfolgt werden.[8]
Für ELEX komponierte “Libraries Of The Mind”-Mitglied Karlheinz Essl unter anderem eine Lexikon-Sonate nach dem Hypertext-Prinzip. Sie wiederholt sich nie, obwohl sie sich in Echtzeit und prinzipiell unendlich verändert.[9] Weitere Mitglieder der 1991 als Zusammenschluss von Künstlern und Mediendesignern in Wien initiierten Gruppe waren, neben dem Autor Andreas Okopenko selbst, Programmdesigner Wolfgang Biró, Historiker Georg Hauptfeld, Fotografin Krista Kempinger, Grafikerin Alfgard Kircher und Kommunikationsexperte Franz Nahrada.[10]
[1] Keßler, Jens: Ein Reisetext als Textreise. Andreas Okopenkos Lexikon-Roman als Beispiel für die Möglichkeiten und Grenzen der Leserbeteiligung im Printroman; Seminarabschlussarbeit im Modul „Kultur, Literatur und Medien“ im Fach Kulturwissenschaften, Fernuniversität Hagen (SS 2012)
[2] Kastberger, Klaus, Hrsg.: Andreas Okopenko: Texte und Materialien. Forschung / Österreichisches Literaturarchiv 2. Wien: Sonderzahl, 1998. S. 89-102
[3] Andreas Okopenko: Lexikon-Roman
[4] Ladstätter, Sonia: Lexikon-Roman und Elex; Proseminarsarbeit zum Thema “Interaktive Narrative” im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Wien (WS 2010/2011)
[5] Ladstätter, Sonia: Lexikon-Roman und Elex; Proseminarsarbeit zum Thema “Interaktive Narrative” im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Wien (WS 2010/2011)
[6] https://www.essl.at/bibliogr/elex.html, 18.1.2022
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Okopenko
[8] https://www.essl.at/bibliogr/elex.html, 18.1.2022
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Okopenko
[10] https://www.essl.at/bibliogr/elex.html, 18.1.2022
Bearbeitet von Monika Andlinger